Kontakt
Spenden
Kontakt Suchen
Spenden
Brothers gf633acc16 1920 Kopie

Familie und Gesellschaft

Als Menschen brauchen wir menschliche Gegenüber, die uns annehmen und bestätigen. Unser gesamtes Sein können wir nicht ohne Familie oder Familienzusammenhänge denken, denn es entspricht unserer Urerfahrung: Der Mensch kommt in Familie oder gar nicht vor. Ein Baby ist hilflos und sehr lange auf Unterstützung angewiesen. Eltern, die ein Neugeborenes schützend im Arm bergen, die den suchenden Blick ihres Kindes liebevoll erwidern, nehmen diese Aufgabe an. Sie sagen ja – wir sind für dich da, wir geben dir Raum zum Wachsen und achten deine Individualität, die wie ein Wunder durch uns entstanden ist. Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit (Pestalozzi nannte sie die drei großen „Z“) sind dabei die Basis für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit: die selbstsicher ist, ohne in Narzissmus zu verfallen, die sich wertvoll fühlt, ohne andere abwerten zu müssen.

Familie ist der Ort, wo Menschen ihre prägendsten Erfahrungen machen

In der Familie erleben wir – wenn alles gut geht – Verlässlichkeit. Dann ermöglicht Familie die Erfahrung von Stabilität, Kontinuität und Langfristigkeit. Diese Erfahrung lehrt auch, was es bedeutet, wenn Menschen Verantwortung füreinander übernehmen: Eltern und Großeltern für Kinder, ältere Geschwister für jüngere – später die Eltern für die Großeltern und die Kinder für ihre Eltern. Die Hingabe, die hier erfahren wird, ist der Nährboden für die Fürsorge der nächsten Generation.

In einer Familie lernen wir Kompromisse einzugehen, zugunsten der Gemeinschaft auf etwas zu verzichten und uns selbst nicht für den Mittelpunkt der Welt zu halten. Das braucht, je nach Charakter, Zeit und einen sicheren Rahmen. Denn es bedeutet Auseinandersetzung, manchmal auch Streit. Aber dabei wächst Vertrauen – in andere und sich selbst. Der Mensch lernt: Ich darf meine Meinung sagen, ich darf mich sogar mal danebenbenehmen und werde dafür nicht vor die Tür gesetzt. Ich kann um Entschuldigung bitten. Wer in seiner Ursprungsfamilie Wertschätzung und Liebe erfahren hat, wird selbst wieder bindungsfähig und ist gut gerüstet, eine neue Familie zu gründen.

Funktionierende Familien stärken die Gesellschaft

Dietrich Bonhoeffer beschreibt Ehe – und impliziert damit auch die Familie – als eines der Mandate, die sich aus dem Auftrag Gottes an seine Schöpfung ergeben: „Wie in der Arbeit neue Werte, werden in der Ehe neue Menschen geschaffen zum Dienst Jesu Christi.“ Eltern investieren voll Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft und schauen über sich selbst hinaus, wenn sie ihre Kinder erziehen und ihr Großwerden begleiten. Sie stellen ihre Bedürfnisse und eigenen Interessen hintenan, investieren Kraft und Geld, um ihren Nachkommen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Und im besten Falle vermitteln sie ihren Kindern dabei Werte, die der gesamten Gesellschaft zugutekommen.

Denn der Lebensraum der Familie ist ein Vorbildort. Hier werden Verhaltensweisen gelernt und kopiert: Wie gehen wir mit Fehlern um, wie wird gestritten und versöhnt? Wie werden Anstrengungen bewältigt, wie stehen wir aus Niederlagen wieder auf, wie tröstet man? Und wie wertschätzen wir dankbar das Gute, das uns zuteilwird? Diese Kompetenzen können Menschen später auch im öffentlichen Leben einbringen, wo sie dringend gebraucht werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Konzept und die Förderung von Familien eine Rechtfertigung oder Begründung ihrer gesellschaftlichen Leistung bräuchte.

Das Erbe, das wir durch unsere Familie in uns tragen, umfasst Gaben und Fähigkeiten, aber auch die innere Beheimatung in Antrieben, Kräften und Fragestellungen, die häufig über Generationen hinweg weitergegeben werden. So sehen wir ganze Dynastien von Handwerkern, Ärzten, Landwirten oder Wissenschaftlern, die ihre Interessen und ihr Wissen an ihre Töchter und Söhne vermittelt und damit die Grundlagen einer funktionierenden Gesellschaft sichergestellt haben.

Familienidentität schenkt Sicherheit

Für jeden heranwachsenden Menschen ist die Frage nach der eigenen Identität essenziell. Wer bin ich? Was macht mich aus? Wohin gehöre ich? Diese Fragen werden zuallererst durch eine gesunde Familienidentität beantwortet: Es gibt Menschen, mit denen ich auf einer tiefen Ebene etwas Gemeinsames habe. Diese Gemeinsamkeit schenkt Selbstgewissheit und damit Sicherheit.

Familienidentität ist die Summe der von allen Familienmitgliedern mehr oder minder anerkannten Werte, Regeln, Vorstellungen und Bestrebungen. Diese tiefe Schicht gemeinsamer Überzeugungen und des gemeinsamen Weltbildes wird weitgehend durch die Eltern bestimmt. Ein Vater und eine Mutter, die dabei von einer christlichen Weltsicht geprägt sind oder sogar eine persönliche Beziehung zu Gott zu haben, können auch diese Lebenswirklichkeit an ihre Kinder weitergeben. Kinder wachsen dann ganz natürlich mit dem christlichen Glauben auf, indem sie erleben, wie ihre Eltern beten, wie sie von Gott reden und bewusst Dinge tun, die Ausdruck ihres Glaubens sind. Jede Familie wird diese Rituale auch im Spiegel ihrer Zeit kritisch reflektieren und neu für sich prüfen, was nicht oder nicht mehr als passend und echt empfunden wird.

Familien mit einer starken und gesunden Familienidentität haben eine gute und lebendige Kommunikation. Diese richtet sich nicht an Hierarchien und Machtverhältnissen aus („Papa bestimmt wo‘s langgeht!“ oder „So lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst ...“), sondern ist bemüht, die Wünsche, Fähigkeiten und Stärken aller zu berücksichtigen. Ganz praktisch heißt das: Jeder darf zu Wort kommen, jeder darf sich einbringen und wird gehört. Dabei sprechen sich die Familienmitglieder direkt an, sind offen und neugierig, was der andere zu einem Problem, einem Erfolg oder einem Thema zu sagen hat. In Familien mit einer starken Identität wird gelacht, gerauft und gestritten.

Familienidentität bedeutet nichts Starres. Im Gegenteil – Flexibilität ist gefragt. Das heißt: Wir können miteinander reden und Dinge verändern. Je älter Kinder werden, desto größer wird auch ihre eigene gestalterische Kraft. Dem muss Familie Raum geben.

Es braucht mehr als die Kernfamilie

Familie wird heute wieder größer gedacht als in den Nachkriegsjahrzehnten, als die Kern- oder Kleinfamilie im Mittelpunkt stand. Dank gestiegener Lebenserwartung umfassen Familien heute mehr Generationen als jemals zuvor. Und doch wird Familie durch zunehmende räumliche Entfernungen nicht immer in dem Maße gelebt, wie es sich manche wünschen. Es wächst deshalb das Bedürfnis, über den Kreis der unmittelbar verwandten Menschen hinauszusehen. Denn eine tragfähige Gemeinschaft um sich zu wissen, die Kindern beim Wachsen hilft, ist beruhigend und stärkend. Ein afrikanisches Sprichwort sagt, es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind groß zu bekommen. Und was für das Aufwachsen von Kindern gilt, ist auch fürs Altwerden oder für Zeiten der Bedürftigkeit sinnvoll. Gemeinschaft und Familie stehen der Vereinsamung entgegen.

Herausforderung Familie

„Familie“ tritt in sehr unterschiedlichen Typen und Formen auf. Wenn man bedenkt, dass die Rollenzusammensetzung unterschiedlich sein kann (Elternfamilien mit oder ohne formale Eheschließung, Mutter- bzw. Vaterfamilien als alleinerziehende Eltern), und auch die Familienbildungsprozesse berücksichtigt (durch Geburt, Adoption, Scheidung/Trennung, Verwitwung, Wiederheirat, Pflegschaft), begegnen uns in Deutschland 16 unterschiedliche, rechtlich mögliche Familientypen mit ihren je eigenen Herausforderungen.

Jede dieser Familien ist in höchstem Maße förderungswürdig und schützenswert. Gefragt und angesprochen sind hier alle, die Gottes Wirken in dieser Welt befördern möchten. Alle, die auch in Zukunft in einer tragfähigen Gesellschaft leben wollen. Gerade wenn Kinder in ihren Ursprungsfamilien den schützenden, lebensfördernden Rahmen nicht so erleben können, wie es wünschenswert wäre, ist die Gemeinschaft gefordert. Ersatz-Großeltern, Pflegefamilien, aber auch institutionelle Unterstützung durch Kindergruppen in Kirchen, durch gute Schulen mit zugewandten Pädagogen oder soziale Einrichtungen, die wir als WERTESTARTER unterstützen, geben Kindern Halt, entdecken und fördern ihr Potential. Dabei sind es immer einzelne Menschen, die sich Kindern zuwenden und sie lieben, die sie wie in einer Familie mittragen, wenn nicht alles rund läuft, und ihnen die Geborgenheit schenken, die sie stark macht für ein selbstständiges Leben.

Anke Kallauch, Hattingen

Vorstandsmitglied bis Ende 2022, Theologin, Referentin für Kindergottesdienst im Bund Freier evang. Gemeinden, Pastorin (FeG), Autorin und Seminarleiterin