
Zu Gast* sein: Ein Fremder wird zum Freund
Wann waren Sie zum letzten Mal bei jemandem zu Gast? Wie lief das ab? Vielleicht haben Sie eine Einladung zum Essen bekommen, bei der die Uhrzeit klar kommuniziert wurde. Sie haben sich auf den Termin vorbereitet, sich etwas schicker angezogen und ein Gastgeschenk besorgt - eine Flasche Wein oder einen Blumenstrauß oder sogar beides. Beim Empfang wurden Sie herzlich begrüßt. Ihnen wurde ein Platz angeboten oder auch zugewiesen. Dann wurden Sie mit Getränken und Essen bewirtet. Sie wurden gut versorgt. Beim herzlichen Abschied mit Dankesworten wurde von Ihnen betont, dass demnächst ein Essen bei Ihnen stattfinden wird. Auf dem Nachhauseweg geht Ihnen noch der Abend mit netten Gesprächen und einer angenehmen Atmosphäre nach. Sie haben sich wohl gefühlt als Gast.
So oder ähnlich kennen wir wahrscheinlich Gastfreundschaft. Sie ist ein Wert und eine Tugend, aber vor allem ist sie eine kulturelle Übereinkunft. Es gibt unausgesprochene Regeln, die wir meistens befolgen. In unserem Land ist es eher selten, dass Besuch unangemeldet auftaucht. Wir verabreden uns. Die Länge des Besuchs und was dabei getan und gesagt wird, hat einen bestimmten Rahmen. Wer das nicht einhält, benimmt sich „daneben“ und missbraucht die Gastfreundschaft.
Häufig ist Gastfreundschaft ein Geben und Nehmen, wir laden uns gegenseitig ein. Wenn ich auf einer Geburtstagsfeier eingeladen war, dann lade ich diese Person auch wieder zu meiner Feier ein. Andererseits gibt es gerade zum Geburtstag häufig eine über Jahre unveränderte Gästeliste. Dies alles ist verglichen mit den Ursprüngen der Gastfreundschaft ein recht seichtes und sicheres Level menschlichen Miteinanders.
Im Duden findet sich folgende Bedeutung des Wortes:
Entgegenkommendes Verhalten gegenüber einem Gast, das in dessen freundlicher Aufnahme, Beherbergung und der Gewährung von Schutz zum Ausdruck kommt.
Hier geht es nicht um einen netten Abend mit guter Verköstigung, sondern um existenzielle Dinge wie Schutz und Beherbergung. Ich biete meinem Gast zunächst einmal ein Dach über dem Kopf an. Das gibt Schutz vor Wetter bzw. Unwetter, vor Tieren und Menschen. In Zeiten, als jede Reise noch ein Abenteuer werden konnte, war es ein hohes Gut, wenn man auf die Gastfreundschaft in der Fremde hoffen konnte; man konnte beim nächsten Haus anklopfen und bekam Verpflegung oder sogar einen Schlafplatz.
Das Bewusstsein, dass ich selbst einmal auf diese Versorgung angewiesen sein könnte, machte die Gastfreundschaft zur kulturellen Übereinkunft. Und sie bezog sich meistens auf Fremde und nicht auf gute Bekannte oder Verwandte.
Ein Blick ins alte bzw. erste Testament der Bibel zeigt öfter die Verknüpfung der Worte Gast und Fremder. Ein Gast gehört nicht zur Hausgemeinschaft, er ist nur vorübergehend in diesem Haus, er ist ein Fremder. Trotzdem teile ich als Gastgeber mein Haus, Essen, Trinken, Unterkunft und weitere Versorgung mit ihm. Das war und ist durchaus für beide Seiten ein Risiko. Der hohe Stellenwert der Gastfreundschaft als moralische Verpflichtung hat dieses Risko gemindert. Die Gastfreundschaft zu missbrauchen, ist bis heute vor allem im orientalischen Kulturkreis ein schweres Vergehen – das macht man einfach nicht.
Für die Zeit, die der Fremde in meinem Haus zu Gast ist, behandle ich ihn freundlich. Ich praktiziere Gastfreundschaft und der Fremde wird (vorübergehend) zum Freund. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Auch der Gast ist zu einer freundlichen Haltung „verpflichtet“. Der Fremde wird zum Freund auf Zeit. Neben dem Schutz der Behausung ist ein fester Bestandteil der Gastfreundschaft das gemeinsame Essen. In vielen Kulturen „muss“ dem Gast unbedingt etwas zu essen angeboten werden (egal, ob er bzw. sie hungrig ist), und der Gast „muss“ auch etwas davon essen. Alles andere hätte eine Beleidigung, eine Beschämung, einen Ehrverlust zur Folge.
In der Gastfreundschaft kommt eine Haltung von gegenseitigem Respekt und Toleranz zum Vorschein. Es geht um Offenheit, Großzügigkeit und um gegenseitige Akzeptanz. So betrachtet könnte man die Gastfreundschaft als Königin der Tugenden bezeichnen, weil sie so viele positive Haltungen in sich vereint. Die Rollen von Gastgeber und Gast sind also in unseren Kulturen fest verwurzelt und jeweils durch eine unausgesprochene Übereinkunft definiert. Beide Seiten verbindet ein hoher moralischer Anspruch. Aber der praktische Vollzug ist doch sehr unterschiedlich.
Sind Sie lieber Gast oder lieber Gastgeber und woran liegt das? Der Gastgeber ist umtriebig, muss sich kümmern, sorgt und versorgt. Der Gast ist zu einer gewissen Passivität „verurteilt“ und natürlich auch zur Dankbarkeit. Für manche Menschen ist das gar nicht so leicht. Im Psalm 119 und in einigen Kirchenliedern findet sich die Formulierung, dass wir nur „Gast auf Erden“ sind. Einerseits steckt darin der Gedanke, dass wir hier gar nicht so ganz zuhause sind. Andererseits hat es auch etwas von Passivität im Sinne von ich werde beschenkt, ich werde versorgt.
Ein guter Gastgeber ist man nicht von Geburt an. Es gibt Anlagen dazu und es braucht Übung dazu. Es könnte sein, dass unsere Entwicklung zu einem guten Gastgeber auch beinhaltet, ein guter Gast zu sein. Im Annehmen von Versorgung und der Dankbarkeit dafür können wir das Gast-sein erlernen. Im Idealfall erfahren wir, dass wir vom Fremden zum Freund geworden sind. Eine schöne, wunderbare Erfahrung, die uns stärkt und fähig machen kann zu guter Gastfreundschaft. Diese Erfahrung können wir im Kontakt mit unseren Mitmenschen machen. Diese tiefe Erfahrung von Annahme und Akzeptanz kann uns aber auch in unserer Gottesbeziehung geschenkt werden.
Was bleibt als praktische Konsequenz all dieser Gedanken? Wie wäre es, die Gastfreundschaft in unserer Kultur ein wenig neu zu beleben? Ein wenig mehr Risiko einzugehen im Umgang mit dem Fremden, der zum Gast und zum Freund werden könnte? Das muss nicht gleich ein ständig offenes Haus sein.
Der Duden beschreibt den Begriff freundlich folgendermaßen:
im Umgang mit anderen aufmerksam und entgegenkommend; liebenswürdig angenehm, ansprechend, heiter [stimmend] wohlwollend, freundschaftlich.
Das ist eine Grundhaltung, die ich zu jeder Zeit an jedem Ort beherzigen kann. Egal ob ich einen Gast in meiner Wohnung begrüße oder ob ich einem Menschen auf der Straße begegne. Vielleicht findet sich dann in diesem freundlichen Miteinander auch das Erlebnis, wie wohltuend eine Gemeinschaft als Gäste hier auf Erden sein kann.
Und manchmal wurden auf diese Weise unwissentlich Engel als Boten Gottes beherbergt.
*Leserinnen fühlen sich bitte mit dem schönen deutschen Wort Gästin ebenfalls angesprochen und willkommen beim Lesen dieses Textes.
Ursula Hauer ist Lebensberaterin, lebt mit ihrer Familie in Stuttgart und hat gern Menschen zu Gast.