Gregor Gysi im Gespräch mit den WERTESTARTERN

„Jemand sagte zu mir: Gott liebt dich. Darauf verlasse ich mich jetzt.“
WERTESTARTER: Herr, Gysi, ich habe bis eben noch durch den Youtube-Kanal Ihres Talk-Formats „Missverstehen Sie mich richtig“ gescrollt, für das Sie bereits mit sehr vielen, völlig unterschiedlichen Persönlichkeiten gesprochen haben. Sie besitzen die wertvolle Gabe, Menschen unterschiedlichster Couleur zusammenbringen zu können. Woher kommt das eigentlich?
Gregor Gysi: Das hat wohl zwei Gründe. In meinem Elternhaus gab es – was für die DDR sehr ungewöhnlich war – häufiger Besuch aus Ländern wie den USA, Großbritannien, Südafrika, Belgien, Holland und vor allem Frankreich. Die vertraten alle sehr unterschiedliche Auffassungen und besuchten trotzdem meine Eltern, so dass ich gelernt habe, mit unterschiedlichen Auffassungen zu leben. Das Zweite ist mein Rechtsanwaltsberuf: Bevor es streitig zugeht und ein Gericht endgültig entscheiden muss, versuche ich, die Sache zu klären. Das heißt: die Menschen zusammenführen, damit sie sich vielleicht doch verständigen und einigen. Das gelingt nicht immer, aber daraus resultiert wahrscheinlich, dass ich Verständnis dafür habe, wenn Menschen anders aufgewachsen sind und die Dinge anders sehen und zu anderen Ansichten kommen als ich.
WERTESTARTER: Wollten Sie – wie Ihre Partei die Linke – denn nicht eigentlich immer auch ein Störfaktor sein?
Gysi: Das tue ich ja auch, ich habe ausreichend gestört. Aber ich möchte dabei nie beleidigend werden, auf eine plumpe Weise. Ich vertrete Auffassungen, versuche aber immer auch darüber nachzudenken, ob am Argument des Gegenübers doch irgendetwas dran sein könnte. Ich war der Erste, der einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn vorgeschlagen hat – damals haben ihn alle abgelehnt. Später haben ihn CDU, CSU und SPD beschlossen. Was sich geändert hat, ist der Zeitgeist. Die Aufgabe der Opposition besteht immer darin, zu versuchen, den Zeitgeist zu verändern.
WERTESTARTER: Wenn Sie nicht in der DDR aufgewachsen wären, könnte es dann sein, dass Sie heute Christ wären?
Gysi: Nicht bei meinen Eltern! Man ist ja immer durch die Sozialisation geprägt, Kinder werden an die Kirche durch die Eltern herangeführt. Das hängt dann nicht so sehr vom Staat ab. Meine Eltern waren nicht gläubig. Ich kann mich noch an einen Satz von mir als Kind erinnern, da sagte ich zu meinem Vater: Aber wenn es keinen Gott gibt, sind ja alle Kirchen umsonst gebaut worden! Da antwortete mein Vater: Nein, die Kirchen sind nicht für Gott gebaut worden, sondern für die Menschen. Karl Marx wird übrigens oft falsch zitiert; er hat nicht gesagt: Religion ist Opium für das Volk, sondern Religion ist Opium des Volkes. Religion sollte also nicht oktroyiert werden, sondern das Volk sucht sich die Religion, um damit Hoffnung zu verbinden, dass es ihm im Paradies besser gehen wird als heute.
WERTESTARTER: Opium verbinde ich eher mit Einlullen und Weggetreten sein...
Gysi: Ja, das ist richtig, aber Marx war wichtig, dass Religion nicht für das Volk ist, sondern vom Volk, das ist ein beachtlicher Unterschied.
WERTESTARTER: Jürgen Habermas hat einmal gesagt, er sei „religiös unmusikalisch“. Wie religiös musikalisch sind Sie?
Gysi: Ich bin nicht musikalisch, ich kann nicht singen und kann kein Instrument spielen. Aber ich höre sehr gerne Musik.
WERTESTARTER: Und das betrifft auch die Religion?
Gysi: Ich liebe Bach, ich liebe die Kirchenmusik, Orgelmusik, das gehört ja alles dazu. Die Religion ist mir aus folgendem Grunde wichtig: Nur durch das Christentum haben wir eine allgemein verbindliche Moral in Deutschland. Die Linke könnte zwar auch versuchen, Moralnormen zu formulieren, aber sie hätte niemals die Kraft, dafür zu sorgen, diese allgemein verbindlich zu machen. Das hat das Christentum geschafft, und zwar durch die Bergpredigt und die Zehn Gebote. Natürlich benimmt sich kaum jemand so, wie es die Bergpredigt und die Zehn Gebote vorschreiben, aber es ist ein gültiger Maßstab, und deshalb haben die Christinnen und Christen Weihnachten immer ein schlechtes Gewissen und spenden für die so genannte Dritte Welt, und die Nichtchristen spenden vor Schreck immer gleich mit, so dass wir Weihnachten immer das höchste Spendenaufkommen haben. Das ist doch interessant.
WERTESTARTER: Da höre ich gleich wieder den Politiker, für den Religion der Gesellschaft zuträglich ist. Können Sie denn auch persönlich inhaltlich mit der Botschaft der Kirche etwas anfangen?
Gysi: Es heißt zunächst einmal, dass ich auf gar keinen Fall religionsfrei leben möchte. Denn das bedeutete, dass wir keine allgemein verbindliche Moral hätten, das wäre schrecklich. Zum Zweiten kann ich die Entstehung von Religion sehr gut nachvollziehen, weil es so schwer war, sich die Dinge zu erklären, die auf der Erde geschahen. Drittens kann ich mit der Friedensbotschaft der Toleranz etwas anfangen. Die Kirchen haben einen großen Vorzug: Sie haben Gläubige in fast allen Ländern – die katholische Kirche sowieso, aber auch die evangelische Kirche – deshalb können sie gar nicht nationalistisch und rassistisch sein. Ansonsten würden sie Gläubige vieler Länder ausschließen. Da Parteien in der Regel nicht international, sondern nur national organisiert sind, gibt es dort viel eher Tendenzen zum Nationalismus und zum Rassismus als in den Kirchen.
WERTESTARTER: In Ihrer Familie gab es Juden – ein Urgroßvater und eine Großmutter waren jüdisch. Glauben Sie, dass von dort noch irgendwo leise auch eine Saite in Ihnen angeschlagen wird?
Gysi: Ja, sicher. Das hat mich immer auch ein wenig geprägt, was Israel und die Geschichte des Judentums betrifft. Die jüdischen Kommunisten in der DDR betonten immer, dass sie Kommunisten waren und deswegen von den Nazis verfolgt worden waren. Dass sie Jude waren, konnten sie sich schließlich nicht aussuchen – dass sie gegen die Nazis kämpften, schon. Deswegen war ihnen die Tatsache, kommunistisch zu sein, wichtiger als die Tatsache, jüdisch zu sein.
WERTESTARTER: Aber Sie würden sich nicht als irgendwie jüdisch bezeichnen?
Gysi: In unserer Bevölkerung gelten ja nach wie vor im Kopf die Nürnberger Gesetze. Danach war mein Vater Halbjude, meine Mutter Vierteljüdin, und ich zu 37,5 Prozent Jude. Meine Kinder zu 16,75 Prozent. Die orthodoxen Juden haben ganz andere Regeln: Wer eine jüdische Mutter hat, ist Jude. Da mein Vater eine jüdische Mutter hatte, wäre er nach dieser Regel Jude, aber ich nicht, weil meine Mutter keine Jüdin war. Ich sage immer: Ich hatte jüdische Vorfahren.
WERTESTARTER: Sie sagten vorhin, sie wollten auf keinen Fall religionsfrei leben. Äußert sich das denn irgendwie in Ihrem eigenen Leben?
Gysi: Ich werde öfters eingeladen, in Kirchen zu predigen. Das mache ich auch gerne. Ich spreche häufig mit kirchlichen Würdenträgern. Ich bin zwei Päpsten begegnet – Benedikt XVI und Franziskus – das war auch für mich hoch interessant. Und auch evangelischen Bischöfen bin ich natürlich begegnet. Natürlich gibt es zum Teil auch Widersprüche, und ich würde manche Dinge anders machen, zum Beispiel würde ich die Schadenersatzleistung für die umfassenden Enteignungen vor über 200 Jahren schrittweise auslaufen lassen.
WERTESTARTER: Ich frage es einmal anders: Gregor Gysi liest nicht jeden Morgen in der Bibel?
Gysi: Nein. Ich bete nicht. Auch nicht heimlich. Weil ich nicht an Gott glaube. Aber ich fürchte eine gottlose Gesellschaft.
WERTESTARTER: Haben Sie eine Lieblingsperson in der Bibel?
Gysi: Eigentlich sind mir da alle recht, die Guten wie die Bösen. Ohne die Bösen wäre die ganze Spannung raus. Am meisten imponiert mir aber letztlich Christus. Ich finde es schön, dass Maria unbefleckt von Gott geschwängert werden musste, was glauben Sie, wie die Zeichnungen in den Kirchen ausgesehen hätten! Das Geniale am Neuen Testament ist, dass das Alte nicht aufgehoben, sondern sozusagen fortentwickelt wird. Das ist ein Problem beim Islam und beim Judentum, dass sie kein Neues Testament haben. Das Christentum wurde dadurch viel moderner.
WERTESTARTER: Warum imponiert Ihnen Christus am meisten?
Gysi: Er ist der, der die Bergpredigt hält, der sagt, wie ein moralisch richtiges Leben aussehen müsste. Es gibt eine schöne Geschichte von Falkner: Einmal herrschte ein entsetzliches Wetter und ein schlimmer Sturm. Ganz einsam steht irgendwo eine Hütte. Ein Mann klopft an die Tür, jemand öffnet und fragt: Sind Sie Christ? Der Mann antwortet: Nein. Daraufhin macht der Mann in der Hütte die Tür wieder zu. Dann kommt der Heilige Geist zu ihm und sagt ihm: Gott hat den Mann schon 50 Jahre ausgehalten, und du kannst ihn nicht eine Nacht aushalten? Daraufhin lässt er ihn doch hinein. Da fragen manche: Und das steht so in der Bibel? Nein, aber es könnte so in der Bibel stehen.
WERTESTARTER: Sie blicken auf viele Jahrzehnte in der Spitzenpolitik zurück. Gab es irgendwelche Politiker, deren christliche Überzeugung Sie besonders beeindruckt hat?
Gysi: Ja, Rudolf Decker. Er war CDU-Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg, machte Umweltpolitik und war tiefgläubig. (Decker gründete 1979 zusammen mit dem Verleger Friedrich Hänssler und dem CDU-Politiker Horst Waffenschmidt die Initiative Gebetsfrühstück, d. A.). Er hatte meinen Vater in die USA und zum Gebetsfrühstück mitgenommen, als der Staatssekretär für Kirchen war. Mein Vater wurde sogar von US-Präsident Ronald Reagan begrüßt. Auch mich hat Rudolf Decker später mit in die USA genommen und auch zum Gebetsfrühstück. Er war humorvoll, anständig und so tiefgläubig, wie ich es selten erlebt habe. Das hat mir imponiert. Er hat zu mir den sehr schönen Satz gesagt: Gott liebt dich. Und darauf verlasse ich mich jetzt (lacht).
WERTESTARTER: Sie haben ein Herz für die Kirche. Aber Sie tanken dort jetzt nicht regelmäßig auf?
Gysi: Nein.
WERTESTARTER: Die Kirche spielte eine sehr wichtige Rolle bei der Friedlichen Revolution 1989. Hätte die Kirche heute immer noch so viel politische Kraft?
Gysi: Wenn es wieder Zustände gäbe, die dies erfordern, wäre das schon möglich. Also etwa wenn Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abgebaut würden, so wie sich das einige vorstellen, dann, glaube ich, würde die Evangelische Kirche wahrscheinlich mutiger dagegen auftreten als die katholische.
WERTESTARTER: Wir hören regelmäßig in den Nachrichten, dass die AfD erstarkt. Wie geht es Ihnen damit?
Gysi: Es ist furchtbar. Das Schlimmste ist, dass die Parteien immer versuchen, irgendetwas von der AfD zu klauen in der Hoffnung, dass sie damit die Wählerinnen und Wähler bekommen. Die werden sie aber nicht bekommen. Man muss einen anderen Weg gehen. Man sollte darüber nachdenken, was man falsch gemacht hat, dass so viel die AfD gewählt wird. Wir haben zum Beispiel bei der Vereinigung von PDS und WASG gedacht, dass nun die große Stunde in Bayern und NRW schlägt. Dabei haben sie den Osten vernachlässigt, und in die Lücke ist die AfD gesprungen. Kurz: Wir haben uns wenigstens Gedanken darüber gemacht, was wir falsch gemacht haben. Das sollte genau so in der CDU/CSU, bei den Grünen, in der SPD und FDP passieren. Auch in den Kirchen müssen sie sich die Frage stellen: Haben wir irgendetwas falsch gemacht, dass die Leute in diese Richtung gehen? Denn unter denen, die in diese Richtung gehen, sind ja auch Gläubige.
WERTESTARTER: Mal eine provokante Frage. Erstens wurden die Menschen im Osten bekanntermaßen größtenteils ohne Religion sozialisiert; gleichzeitig ist die AfD besonders im Osten sehr stark. Gibt es da einen Zusammenhang? Hätte der Osten mehr Gott vertragen können?
Gysi: Schwer zu sagen. In allen anderen sozialistischen Ländern ist ja eine Rückkehr zur Religion zu verzeichnen. Es gibt nur zwei Ausnahmen: Tschechien und die ehemalige DDR. Doch die Menschen wurden überall ähnlich unterrichtet und es wurde die gleiche Weltanschauung gutgeheißen. Warum gibt es dann diese Unterschiede? Das ist noch nicht erforscht. Ich nehme an, es hängt damit zusammen, dass die evangelische Kirche in der DDR eine Heldenkirche war; bei der Vereinigung hätte sie eine führende Rolle spielen müssen. Joachim Gauck hatte eine Woche vorher elf IM (Inoffizieller Mitarbeiter, d. A.) bekanntgegeben, und damit war sie erledigt. Außerdem hat das Finanzamt den Beitrag einfach abgesetzt, auch das kam nicht gut an. Aber ja, wenn die Religion in der DDR eine andere Rolle gespielt hätte, wären die Menschen in bestimmten Punkten anders als sie es heute sind.
WERTESTARTER: Glauben Sie persönlich an ein Leben nach dem Tod?
Gysi: Nein.
WERTESTARTER: Das war kurz und deutlich.
Gysi: Wobei... am Ende geht ja nichts verloren. Aus dem Körper wird Asche. Aber das Bewusstsein, das Denken, die Gefühle... wo gehen die hin? Das ist eine spannende Frage. Ich glaube, sie erlöschen einfach.
WERTESTARTER: Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Jörn Schumacher für die WERTESTARTER-Stiftung
